Der Tag an dem mich der Trail verlies.

Warum mache ich das hier eigentlich? Ich sitze bei Kilometer 50 des UTFS irgendwo im Wald auf einem Baumstamm und stelle mir die große Sinnfrage. Möchte ich weiterhin Trailrennen laufen? Ja! Möchte ich das Ganze auf ambitionierte Art und Weise tun? Ich weiß es nicht…

Doch von Beginn an…

Eigentlich war alles perfekt angerichtet: Ich hatte die letzten vier Wochen gut trainiert, fühlte mich fit und wollte so richtig einen raushauen. Anvisiert war eine bestmögliche Performance. Ja, ich wollte mich für die bevorstehende WM in Innsbruck empfehlen und rechnete mir bei einem starken Auftritt berechtigte Chancen für den dortigen „Long Trail“ aus. So gehöre ich auch zum erklärten Kreis der Favoriten bei dieser mit viel Herzblut organisierten Veranstaltung in der Fränkischen Schweiz.

Alles gut und genau der Wahnsinn, wie ich ihn seit über 10 Jahren betreibe

Der Vortag wie immer: Arbeiten bis 13 Uhr, Packen, Anreise auf den letzten Drücker, Startnummer holen und anschließend als Teil einer Podiumsdiskussion den Veranstaltern zur Verfügung stehen. Kein Problem! Ausrüstung parat legen, Frühstück vorbereiten und Schlafen im Auto auf einem Parkplatz. Routine!

10 Minuten vor dem Start um 6:50 Uhr nahm der Tag seine Wendung. Beim Anziehen der Laufweste platzt der Reißverschluss und ich stehe kurz vor dem Wettkampf etwas perplex ohne Rucksack da. Hektisch krame ich ein bisher nicht getestetes Werbegeschenk hervor und schichte die nötigsten Utensilien um. Wird schon gehen! Mit Blick auf die Uhr schließe ich den Kofferraum. Darin mein kaputter Rucksack mit Autoschlüssel und der Hälfte meiner geplanten Verpflegung. Die Erkenntnis kommt mit dem Verschlussgeräusch: Shit – ausgesperrt! Ich verschiebe das Problem auf nach dem Lauf und eile in Richtung Startbereich – immerhin ist es bereits 6:55.

Mit Wut im Bauch zum WM Ticket?

Mit Wut im Bauch geht es über die ersten Kilometer und ich fühle mich bärenstark. Zusammen mit Markus Brennauer führe ich das Feld an, nur einzelne „Verläufer“ aufgrund fehlender Markierungen bremsen unseren Flow auf den ersten Kilometern. Die Hälfte der Strecke absolvieren wir in 2:45h. Wir sind auf Rekordkurs, das wird heute mein Rennen. Denkste! Im Downhill rutscht mir der Fuß weg und ich verdrehe mir das Knie. Es tut weh, aber Adrenalin und Wettkampfatmosphäre machen es erträglich. Erst später merke ich wie unrund ich laufe und wie sehr mich die Verletzung vor allem im Downhill hemmt. Sonst meine Stärke, verliere ich ab sofort bergab immer an Boden. Noch führen wir zu zweit das Rennen an und ich bin bereit zu kämpfen.

Alte Verletzungen und ungeahnte Magenprobleme

Doch es kostet Körner – vor allem mental. Die Strecke ist in diesem Abschnitt unzureichend markiert und immer wieder machen wir uns auf die Suche nach der richtigen Abzweigung und dem exakten Weg. Gerade für die Führenden frustrierend – auch wenn es vielleicht nur 60, 30 oder 10 Sekunden kostet, die Verfolgergruppe kann sich im Anschluss an uns orientieren und spart sich genau diese Sekunden des Zweifelns und Suchens. Inzwischen sind meine halbierten Vorräte (der Rest liegt im kaputten Rucksack des zugesperrten Autos) verbraucht und ich muss mich an den VPs verköstigen. Alles gut gemeint. Von Wurst, Käse, Schokolade, Nussschnitten oder Müsliriegeln mit Schokoüberzug ist alles da, was ich mir im Ziel wünschen würde. Nichts davon bringt mich aber energietechnisch so richtig weiter und die ungewohnte Verpflegung in Verbindung mit der Hitze schlägt auf den Magen. Es ist diese Summe an Kleinigkeiten, die mich auf Dauer mürbe macht und mich in die „Baumstamm-Situation“ aus dem Anfangsszenario bringt.

Zeit aufzuhören?

Weitermachen? Aussteigen? Im Kopf gehe ich die Optionen durch: Hinlegen und sterben? Nö! Notfallnummer wählen und abholen lassen? Ich möchte niemandem zur Last fallen! Weiter bis zur nächsten VP und dort mit jemanden ins Ziel fahren? Vielleicht. Aus reinem Pragmatismus entscheide ich mich ins Ziel zu wandern bzw. zu traben. Diese Einstellung hatte ich früher als Schüler und Student schon nach dem Weggehen: Bevor ich auf ein Taxi gewartet habe, bin ich meist lieber heimgelaufen. Ging oft genauso schnell und war günstiger. Wenn ich es mir recht überlege, ist dieser stoische Pragmatismus wohl genau das, was einen Ultraläufer auszeichnet. Ich sinniere also über meine Zukunft als Läufer, nachdem ich mich und die damit verbundenen WM-Ambitionen aufgegeben habe.

Stoischer Pragmatismus als Kennzeichen des Ultraläufers

Mein Leistungsvermögen ist besser denn je: Die Intervalle im Training fühlen sich gut an und sind trotzdem schneller als je zuvor. Auch die eigenen Strava-Segmente pulverisiere ich regelmäßig. Es ist also nicht der körperliche Verfall, der mir zu schaffen macht. Eher der unbedingte (Sieges-)Wille, der mich in den vergangenen 15 Jahren antrieb, wenn es mal nicht gut lief. Fehlt mir mittlerweile der Biss? Will ich das überhaupt noch? War es das mit Wettkämpfen? Ich denke in diese Situation kommt jeder Sportler irgendwann – manche früher, andere später – in der man sich Gedanken macht aufzuhören. Bei einigen geht das von einem Tag auf den anderen, bei mir ist es ein schleichender Prozess. Ich bin unglaublich gerne Teil dieser Community, laufe immer noch unglaublich gerne Wettkämpfe.

Dabei ist es einfach alles zu geben, wenn man in Führung liegt und sich gut fühlt. Es ist auch leicht auszusteigen, wenn es mal nicht gut läuft. Und es fällt mir leicht (ich habe den Körper immerhin jahrelang daran gewöhnt hat) einen Ultratrail im Wohlfühlbereich zu absolvieren. Was jedoch einen „Sieger“ von einem „normalen Läufer“ unterscheidet und was mir in zunehmendem Alter schwerer fällt, ist es einen Wettkampf an der Leistungsgrenze zu laufen, der nicht gut läuft. Mich aus einem Tal herauszukämpfen oder auch mal den Schmerz (solange es keine wirklich ernste Verletzung ist) zu ignorieren und volle Pulle weiterzumachen wird von der persönlichen Challenge von einst immer mehr zur Qual. Will ich das Ganze also noch? Ja, aber nicht um jeden Preis und nicht an jedem Tag. Ich glaube ich habe mir jahrelang bewiesen, dass ich beissen kann. Jetzt habe ich es mir auch mal verdient einen Wettkampf langsamer anzugehen, Schokolade an den VP`s in mich reinzuschaufeln und bei einem netten Plausch auch mal 5 Minuten „liegen“ zu lassen. Wenn der Tag und die Verfassung passen, kann ich aber auch mal „racen“.

Licht am Ende des Tunnels

Im Zielbereich holen mich zwei Menschen aus meinen grauen Gedanken, mit denen ich vorher nie gerechnet hatte. Einer meiner besten Schulfreunde, wir hatten uns seit 15 Jahren nicht gesehen, steht am Straßenrand und feuert mich lautstark an. Er lebt in Erlangen und hatte in der Zeitung gelesen, dass der „Deutsche Meister“ am Start steht. Wir plaudern über alte Zeiten, brechen gemeinsam in mein Auto (mit dem Schlüssel im Rucksack fing das Schlamassel an) ein und genießen den Tag bei einigen Bieren. Die zweite Person, die mir sprichwörtlich den Tag versüßt ist Stefan von trailrunning24.de und seine Zielverpflegung. Er und seine Frau lächeln auch noch als mein Kuchenkonsum in den zweistelligen Bereich geht und fordern mich charmant auf zuzugreifen. Von Konkurrenzdenken keine Spur. Es ist schon eine sehr coole Community, die wir Trailrunner hier haben…

Familie – Freunde – Arbeit – Sport

An dieser Stelle möchte ich also die ultimative Liste (siehe Trailrunning mit Familie) um die Kategorie Freunde erweitern, wenn man sie nicht schon längst zur Familie gezählt hat. Und keine Angst um meine mentale Verfassung: Spätestens am nächsten Morgen ist meine eitle Leistungssportlerseele wieder geheilt, als zwei Tiger zu mir ins Bett gehüpft kommen und sich wie wahnsinnig freuen, dass der Papa wieder da ist. Mein Großer flüstert mir noch ins Ohr, dass ich für ihn der „beste Läufer der Welt“ bin. Lieb von ihm – aber ehrlich gesagt ist mir das in diesem Moment sch…egal.